Dialektik als didaktisches Prinzip

Roland W. Henke 

In: Martina u. Jörg Peters (hrsg.): Moderne Philosophiedidaktik. Basistexte. Meiner: Hamburg 2019, S. 71 – 84.

Dialektik als didaktisches Prinzip –Bausteine zu einer zeitgemäßen Philosophiedidaktik im Anschluss an Kant und Hegel

Zusammenfassung: Eine zeitgemäße Philosophiedidaktik muss und kann in wesentlichen Stücken dialektisch sein – diese These versucht der Aufsatz in theoretischer und praktischer Hinsicht zu entfalten und dabei einen didaktischen Ansatz zwischen Martens und Rehfus zu positionieren. Dazu wird im ersten Teil der Dialektik als philosophischer Methode philosophiegeschichtlich nachgespürt, um im weiteren ihren didaktischen Stellenwert bei Kant und Hegel zu beleuchten. Von diesen beiden Denkern aus werden daraufhin Grundsätze einer zeitgemäßen Philosophiedidaktik expliziert, als deren Kristallisationspunkt die Bildung der kritischen Vernunft der Lernsubjekte an ausgewählten dialektischen Gedankenbewegungen aus der Geschichte der Philosophie situiert wird. Der Schlussteil zeigt beispielhaft die Umsetzung der skizzierten Prinzipien in je einer Unterrichtssequenz aus der praktischen und aus der theoretischen Philosophie. 

Obgleich die philosophiedidaktische Debatte zwischen Rehfus und Martens inzwischen mehrere Jahrzehnte hinter uns liegt, kann es auch heute noch nützlich sein, sich die damaligen Fronten zu gewärtigen. In dieser didaktischen Grundsatzdiskussion der 1970er und 80er Jahre figuriert Rehfus als Anwalt des objektiven Geistes. In rechtshegelianischer Wendung fasst er philosophische Bildung als einen »Prozess der Abarbeitung zufälliger, empirischer Subjektivität und Bedingtheit an der Objektivität des Seins kraft der Aufarbeitung der philosophischen Tradition«. Demgegenüber rückt Martens das Orientierungsbedürfnis der Schülerinnen und Schüler als denkender Subjekte ins Zentrum und traut ihrer Vernunft von Beginn an die Fähigkeit zur philosophischen Problementfaltung und -beurteilung zu. Im Dialog mit ihresgleichen und mit philosophischen Texten als Experten vollziehen die Lernsubjekte einen Prozess der Selbstaufklärung ihrer handlungsleitenden Grundannahmen. Dabei beruft sich Martens, neben dem Pragmatismus Deweys und der Umtriebigkeit eines Sokrates auf dem Marktplatz als Lernort von jedermann, besonders auf Kant mit seiner Maxime des Selbstdenkens.

Ich möchte im Folgenden versuchen, einen dialektischen Ansatz in der Philosophiedidaktik zu skizzieren und diesen innerhalb des polaren Spannungsfeldes von Rehfus und Martens zu platzieren. Dabei beziehe ich mich genau auf die beiden Kronzeugen, welche die genannten didaktischen Positionen jeweils für sich reklamieren: Kant und Hegel. Sie lese ich im Hinblick auf ihr didaktisches Potenzial gegen eingebürgerte Deutungsstandards.

Dialektik innerhalb der philosophiedidaktischen Grundsätze Kants und Hegels

Bevor ich im Anschluss an Kant und Hegel einige Bausteine zu einer zeitgemäßen Philosophiedidaktik zu liefern versuche, möchte ich kurz darauf eingehen, welchen Stellenwert die Dialektik in der philosophischen Lehre beider Denker zugewiesen bekommt.

Für Hegel hat das Logische, verstanden als die philosophische Methode der Selbstbewegung des Absoluten, näherhin drei Seiten: »a ) die abstrakte oder verständige, b) die dialektische oder negativ-vernünftige, c) die spekulative oder positiv-vernünftige«. Zur Seite des Verstandes führt Hegel weiter aus, dass er bei festen abstrakten Bestimmtheiten und ihrer Unterschiedenheit gegen andere stehen bleibt. Der Satz vom Widerspruch ist ihm das höchste Kriterium; die charakteristische Form der Verstandesbestimmungen ist die Dichotomie.

Hingegen ist das dialektische Moment der Methode »das eigene Sichaufheben solcher endlichen Bestimmungen und ihr Übergehen in ihre entgegengesetzten«. Die dieser Definition folgende Erläuterung lässt die Bestimmung klarer werden. Danach unterscheidet Hegel zwischen einer äußeren, leeren und einer immanenten, inhaltlich bestimmten Dialektik. Die erstere besteht in der willkürlichen Verwirrung bestimmter Begriffe und führt letzthin zum Skeptizismus.

Die zweite aber entdeckt sich als »die eigene, wahrhafte Natur der Verstandesbestimmungen, der Dinge und des Endlichen überhaupt«. Sie ist eine aus den festen Verstandessetzungen selbst entstehende Bewegung, die deren Einseitigkeit und Beschränktheit darlegt, indem sie zu ihrem Gegenteil, ihrer bestimmten Negation, fortläuft.

Im methodischen Fortgang des Systems repräsentiert die Dialektik damit zugleich die Seite der Subjektivität. Indem das Absolute im Vollzug seiner philosophischen Selbstfindung die abstrakten Verstandesbestimmtheiten auflöst, gelangt die Subjektivität in der Form des Begriffs zu ihrem Recht. Das Subjekt wird so aber nicht der Willkür des eigenen »kreativen« Denkens überlassen, die schnell zum sophistischen Räsonnement oder gar zum leeren Skeptizismus führt. Vielmehr wird die Subjektivität als Begriff in die eigentümliche Bewegungsform des philosophischen Systems eingebunden und zu ihrem movens gemacht : »Das Dialektische macht daher die bewegende Seele des wissenschaftlichen [d. i. des philosophisch-systematischen] Fortgehens aus und ist das Prinzip, wodurch allein immanenter Zusammenhang und Notwendigkeit in den Inhalt der Wissenschaft kommt […]«. Dass die Bewegung des philosophischen Systems sich in toto gemäß der ihm immanenten Teleologie entfaltet, garantiert das spekulative Moment der Methode. Als das Positiv-Vernünftige fasst es »die Einheit der [aus der dialektischen Bewegung entstandenen] Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung« auf. An anderer Stelle bezeichnet Hegel es auch als »die Erkenntnis des Entgegengesetzten in seiner Einheit, – oder genauer, dass die Entgegengesetzten in ihrer Wahrheit eins sind«. Das spekulative Moment lässt damit eine neue Bestimmung aus den der Dialektik zu verdankenden vorhergehenden entstehen, die sich wiederum ihrer dialektischen Auflösung und Verkehrung ins Gegenteil nicht entziehen kann. Diesen Prozess nennt Hegel absolute Negativität. Auf diese Weise verleiht das Spekulative der Systembewegung die Richtung eines Kreises und gibt der Bewegungskraft des Begriffs eine schließlich die Erfassung der ganzen Wahrheit verbürgende Gestalt.

Von den drei skizzierten methodischen Momenten gehört für Hegel in erster Linie das abstrakte an die Schule:

Was den Vortrag der Philosophie auf Gymnasien betrifft, so ist erstens die abstrakte Form zunächst die Hauptsache. Der Jugend muss zuerst das Hören und Sehen vergehen, sie muss vom konkreten Vorstellen abgezogen, in die innere Nacht der Seele zurückgezogen werden, auf diesem Boden sehen, Bestimmungen festhalten und unterscheiden lernen. […] Hält man sich bloß an die abstrakte Form des philosophischen Inhalts, so hat man eine (sogenannte) verständige Philosophie; und indem es auf dem Gymnasium um Einleitung und Stoff zu tun ist, so ist jener verständige Inhalt, jene systematische Masse abstrakter gehaltvoller Begriffe unmittelbar das Philosophische als Stoff und ist Einleitung, weil der Stoff überhaupt für ein wirkliches, erscheinendes Denken das Erste ist.

Ibid., S. 413 – 414.

In der didaktischen Einschätzung der philosophischen Methoden liegt Hegel damit nahe bei Kant, der ebenfalls im Anschluss an die »Metaphysik der Sitten« in einem moralischen Katechismus eine verständige Fassung seiner ethischen Zentralbegriffe zum Gebrauch für die Schule vorlegt – ganz wie Hegel dies in seiner Nürnberger Propädeutik tut. Allerdings veranschaulicht Kant seine Begriffe durch Beispiele und empfiehlt auch sonst eine Anknüpfung des philosophischen Räsonnements der Jugend an »Biografien alter und neuer Zeiten«.

Das Verständige bezieht seine Legitimation aus dem, was Kant und Hegel der philosophischen Produktion an Wahrheitsgehalt zutrauen. Das ist bei Kant weitaus weniger als bei Hegel: nämlich nur die apriorische Gewissheit des Sittengesetzes – wohingegen Hegel mit der spekulativen Prätention philosophiert, die ganze (soziale) Wirklichkeit zu begreifen. Dennoch spielt für Kant in der philosophischen Lehre über das Abstrakte hinaus auch das dialektische Moment eine wichtige Rolle.

Als Vernunftwissenschaft kann für ihn, außer der Ethik, nur die Mathematik mit bestimmbarem abstrakten Inhalt gelehrt werden, denn nur die mathematische Erkenntnis vermag zweifelsfreie apriorische Gewissheiten zu erlangen. Da die »Kritik der reinen Vernunft« der Philosophie als ganzer, insonderheit der Metaphysik, ihre vermeintlichen rationalen Gewissheiten geraubt hat, kann man niemals Philosophie, es sei denn auf historisch unverstandene Art, sondern »höchstens nur philosophieren lernen«. Philosophieren lernen heißt für Kant

das Talent der Vernunft in der Befolgung ihrer allgemeinen Principien an gewissen vorhandenen Versuchen üben, doch immer mit Vorbehalt des Rechts der Vernunft, jene selbst in ihren Quellen zu untersuchen und zu bestätigen, oder zu verwerfen.

Ibid., S. 542 (B 866).

Mit dem Erlernen des Philosophierens will Kant die Jugend vor der sophistischen Dialektik des Scheins bewahren. Er spricht in diesem Kontext auch von der »frühkluge[n] Geschwätzigkeit junger Denker, die blinder ist, als irgendein anderer Eigendünkel und unheilbarer als die Unwissenheit«. Ihr kann nur durch die Ausrichtung des philosophischen Lernprozesses am natürlichen Fortschritt der menschlichen Erkenntnis begegnet werden, der »durch Erfahrung zu anschauenden Urteilen und durch diese zu Begriffen gelangt«. Kant votiert also in didaktischer Absicht für ein kritisches dialektisches Philosophieren, das aber vor sophistischer Geschwätzigkeit durch die Versammlung auf vorhandene philosophische Versuche zu bewahren ist.

Auch Hegel konzediert, unter den für ihn als Lehrer der philosophischen Propädeutik verbindlichen Vorgaben des seinerzeit gültigen Lehrplans (sog. Niethammersches Normativ), dem Lehrer am Gymnasium die Freiheit, »allenthalben den Versuch mit der Dialektik zu machen, so oft er mag, und, wo sie keinen Eingang findet, ohne sie zum nächsten Begriff überzugehen«. Dabei versteht er unter Dialektik ebenso wenig wie Kant die selbsttätige und willkürliche Kritik der Schüler an den vorgedachten Bestimmungen, die für ihn letzthin im Skeptizismus endet; vielmehr handelt es sich um eine der präsentierten Gedankenbestimmung immanente Entfaltung ihres Gegensatzes, die vom Schüler nachzudenken ist. Wie Kant bemüht sich Hegel also um die Bändigung und Integration der Dialektik in den philosophischen Fortgang, der für ihn allerdings nicht kritisch, sondern spekulativ bestimmt ist.

Das Spekulative selbst verbannt Hegel aus der Schulsphäre. Zwar ist es das eigentlich Philosophische, dasjenige, was dem systematischen Fortgang seine Richtung und Wahrheit verleiht, aber »es kann nur sparsam im Gymnasialvortrag vorkommen; es wird überhaupt von wenigen gefasst, und man kann zum Teil auch nicht recht wissen, ob es von ihnen gefasst wird«. Der Lehrer lässt sich nicht in die spekulativen Karten gucken: Das, was eigentlich die Wahrheit des philosophischen Inhaltes resp. die rechte Abfolge der Begriffe verbürgt, bleibt dem Schüler verschlossen; es muss ihm verschlossen bleiben, weil es insgesamt den Bereich der Schule als Sphäre der Subjektivität, die sich in verstandesmäßiger Differenz vom Objekt getrennt hält, aufzehren würde.

Eine ähnliche Gedankenfigur ist auch wieder bei Kant anzutreffen: Die wesentlichen Bestimmungen seines moralischen Katechismus verdanken sich der »Dialektik der reinen praktischen Vernunft«, können aber in ihrer ans Spekulative grenzenden Komplexität nicht vermittelt werden, so dass der Schüler sich mit ihrer Verstandesform begnügen muss. Welchen Ertrag können nun die philosophiedidaktischen Grundsätze Kants und Hegels für die Konzeption einer zeitgemäßen Philosophiedidaktik abwerfen?

Dialektik als Prinzip einer zeitgemäßen Philosophiedidaktik

Kant wie Hegel weisen, unabhängig von ihrer tatsächlichen Inanspruchnahme der Spekulation, in aller Deutlichkeit darauf hin, dass diese den Standpunkt der Subjektivität übersteigende Methode für Schüler nicht nachvollziehbar sei. In der Tat ist es eine für die heutige Philosophiedidaktik zentrale Einsicht, dass die Philosophie Schellings, Hegels, Heideggers (nach der »Kehre«), aber auch die Foucaults und Luhmanns, für die Schule nicht geeignet ist. Ohne Schülerinnen und Schülern hier etwas vorenthalten zu wollen, muss die Lehrperson wissen, dass Philosophien, die als Theorien des Absoluten bzw. des Seins, des Diskurses oder des Systems auftreten, den Schülerinnen und Schüler schon allein deshalb Verständnisprobleme bereiten, weil sie den seit Descartes als geistesgeschichtliche Selbstverständlichkeit gewachsenen Standpunkt des Subjekts »aufheben«. Denn er ist es, den sich Jugendliche in und nach der Pubertät gerade mühselig erarbeiten müssen und für dessen Erarbeitung sie Hilfestellung erwarten dürfen.

Die Kehrseite dieser Einsicht ist dann eine didaktische Fokussierung auf die abstrakte und die dialektische Methode, insofern diese gerade den Standpunkt der Subjektivität markieren. Zuerst einmal bedeutet die Konzentration auf das Abstrakte die Favorisierung von Autoren, die auf diese Weise philosophieren: Platon (besonders in den früheren Dialogen), Descartes, Hobbes, Locke, Kant, mit Einschränkungen auch Schopenhauer, Freud, Sartre und Arendt sowie Vertreter der analytischen Philosophie erscheinen in dieser Perspektive als geeigneter Schulstoff. Sie arbeiten mit klar umrissenen, meist dichotomisch bestimmten Begriffen und vertreten erkennbare philosophische Positionen mit einem verständlichen Inhalt, der auf dem Boden eines subjektiven Denkens steht. Wer versucht, sie verstehend nachzuvollziehen, lernt die Fähigkeit genauer begrifflicher und gedanklicher Analyse. Er hat es mit klar umrissenen Positionen zu tun, die der Form nach auch seinem eigenen Denken hätten entsprungen sein können und bei denen sich daher die lernende Aneignung und akribische Analyse lohnen.

Mit Kant ist hier allerdings gegen Hegel die Engführung auf das bloß Abstrakte, bei dessen Adaption der Jugend »das Hören und Sehen vergehen« müsse, zurückzuweisen. Die philosophischen Abstraktionen leben ja nicht in sich, sondern gewinnen ihre Bedeutung aus der Bewährung an der Lebenswelt und ihren Fragestellungen.

Für eine zeitgemäße Philosophiedidaktik leitet sich daraus der Grundsatz ab, primär inhaltlich bestimmte, mit eindeutigen Begriffen operierende philosophische Positionen zu erarbeiten, die als Antworten auf eine aus der Lebenswelt erwachsende Problemstellung aufzufassen sind. Zugleich darf es nicht beim einmaligen Problemaufweis bleiben, sondern die philosophische Abstraktion muss sich inihrer Erklärungs- und Verstehenskraft an den lebensweltlichen Problemen bewähren. Das bedeutet für den Lehr- bzw. Lernprozess: Die philosophischen Positionen dürfen nicht nur als abstrakte Antworten auf ein einmal gestelltes Leitproblem vorgestellt, sondern müssen permanent durch Beispiele und Veranschaulichungen ergänzt werden; sie sind zudem auf lebensweltliche Kontexte anzuwenden, d.h. die Schülerinnen und Schüler haben sie in diesen zu rekonstruieren (Transfer) und auf ihre Tragfähigkeit und Plausibilität hin zu be- werten und zu prüfen.

Mit dieser letzten Bestimmung tritt das Dialektische auf den Plan. Wenn der Schlüsselsatz einer dialektischen Philosophiedidaktik stimmt, dass es gegen Philosophie (als fest gefügte Ideologie oder Weltanschauung) kein anderes probates Mittel gibt als das Philosophieren, muss gerade dieses als die Kritik und Beurteilung fester philosophischer Standpunkte bei den Schülern angezettelt werden. Besonders von Hegel lässt sich hier lernen, dass das Denken nicht bei seiner eindeutigen Fixierung stehen bleiben kann und darf. Die Kritik, ja die Zersetzung und die daraus oftmals erwachsende Verwerfung fest gefügter Inhalte ist ihm inhärent, und sie stellt zugleich die Bedingung des Aufbaus einer vernunftgeleiteten eigenständigen Ur- teilskompetenz dar, die in einer pluralistischen Gesellschaft mit divergierenden Sinnangeboten allenthalben nötig ist.

Gleichzeitig sollten hier aber auch die Warnungen Kants und Hegels vor einer Fehlform von Dialektik, die sich zum leeren Scheinwissen aufspreizt oder zum bloßen Skeptizismus degeneriert, nicht in den Wind geschlagen werden: Die »frühreife Geschwätzigkeit« jugendlicher »Denker« ist heute noch ein ebenso aktuelles Problem der philosophischen Lehre wie zu Kants Zeiten. Als Mittel gegen diese Krankheit bieten sich dialektische Gedankenentwicklungen aus der Philosophiegeschichte an. Sie liegen dort in großer Zahl bereit, weil Philosophen sich häufig zu den Konzeptionen anderer Denker geäußert haben – zumeist um ihren eigenen Stand- punkt abzugrenzen, aber auch um ihn in Auseinandersetzung mit Vorläufern und Widersachern allererst zu entwickeln und auszuschärfen. Von daher legt sich als didaktischer Grundsatz die Einbindung des eigenständigen Erörterns und Beurteilens in eine solche philosophiegeschichtlich ausgewiesene dialektische Gedankenbewegung nahe. Eine derartige Integration sichert das philosophische Niveau auch der Kritik und Verwerfung einer bestimmten Position und bewahrt die subjektiven Urteile der Schülerinnen und Schüler vor Beliebigkeit und philosophischer Belanglosigkeit, da sie durch genuin philosophische Argumente zu einer neuen Position geführt werden, die sich aus der vorhergehenden argumentativ ableiten lässt.

Wie sieht nun eine Unterrichtssequenz nach dialektischem Grundsatz aus? Als Antwortversuch auf eine zuvor entfaltete lebensweltlich relevante Problemstellung wird eine philosophische Position mit begrifflich bestimmter Argumentation dargeboten. Diese gilt es nach den Regeln der Kunst zu analysieren und in ihren be- grifflichen Operationen nachzuvollziehen. Insoweit sie der die Position entfaltende Text nicht selbst gibt, sind hierzu Beispiele und Veranschaulichungen durch die Lehrperson bzw. die Schülerinnen und Schüler einzubringen. Das Gesamtverständnis der Position sollte zusätzlich durch einen Transfer gesichert werden, der ihre Rekon- struktion in (lebensweltlichen) Anwendungszusammenhängen verlangt. Daraufhin folgt als weiterer Unterrichtsgegenstand ein zentraler, im Allgemeinen der Philosophiegeschichte entnehmbarer argumentativer Einwand gegen die zuvor analysierte Position, den es ebenfalls verstehend nachzuvollziehen und schließlich auch zu beurteilen gilt. Gegebenenfalls können auch mehrere inhaltlich disparate kritische Einwände eingebracht werden. In jedem Fall ist die Kritik so auszuwählen, dass sie die als nächsten Unterrichtsgegenstand präsentierte philosophische Position argumentativ vorbereitet; d.h. solche Schwachstellen an der zuerst erarbeiteten Position aufweist, dass die folgende als neue (erst einmal tragfähigere) Pro- blemlösung erscheint. Auf diese Weise stellt sich – in Hegels Terminologie ausgedrückt – die neue philosophische Position als eine bestimmte Negation der vorhergehenden dar. Alle so erarbeiteten Positionen sind stets auf die anfangs explizierte und/oder durch die Antwortversuche modifizierte Problemstellung zurück zu beziehen, die so den permanenten Hintergrund dieses didaktischen Arrangements bildet.

Nehmen wir die ablaufenden Denkprozesse der Lernsubjekte bei einem solchen Aufbau einer Unterrichtseinheit noch etwas näher in den Blick. Zuerst einmal muss die vorgelegte philosophische Position und die daran geäußerte Kritik nach ihren zentralen Begriffen und Argumentationsstrategien analysiert und verstanden werden. Da die Kritik notwendig die Geltungsfrage impliziert, bringt sie die Lernsubjekte in die Beurteilungsdimension auf einem philosophisch, d. i. begrifflich und argumentativ angemessenen Niveau. Dieser Beurteilungsbereich selbst umfasst wiederum zwei Komponenten: Zum einen gilt es, die kritisierte Position selbst noch einmal neu, d.h. geltungstheoretisch zu lesen und zu prüfen und sich auf diese Weise mit ihr zugleich nach- und selbstdenkend auseinanderzusetzen. Die präsentierte Kritik führt hier zu einem vertieften kritischen Verstehen der ursprünglichen Position als Antwortversuch auf eine lebens- weltlich vermittelte Frage.

Zum anderen ist auch diese Kritik im diskursorientierten Miteinander der Lernsubjekte auf ihre Stichhaltigkeit und Berechtigung zu befragen und kann verworfen oder akzeptiert werden. Auf dieser Stufe der »Kritik der Kritik« kann sich das dialektische Potential der Lernsubjekte frei entfalten. Dennoch werden sich hier – der kantischen und hegelschen Annahme eines in jedem anzutreffenden Vernunftvermögen folgend25 – hinreichend plausible Gründe und Argumente herauskristallisieren, die über die Tragfähigkeit der Kritik Aufschluss vermitteln. Von da aus lässt sich, unter einem gewissen Flexibilitätsvorbehalt, die Wahl der folgenden Position vorausplanen, die als neues Problemlösungsangebot die aufgedeckten Mängel der ersten Position nicht aufweist. So beginnt der Prozess der verstehend- analysierenden Aneignung und dialektischen Verwerfung aufs Neue.

Auf der Grundlage der Auseinandersetzung mit vorgegebenen dialektischen Gedankenbewegungen aus der Philosophiegeschichte kann schließlich auch von den Lernenden selbst eine eigene philosophische Positionierung entwickelt werden, die eine angemessenere Problemantwort als die behandelten gibt bzw. zu geben scheint: Denn auch sie hat sich wieder der Kritik zu stellen.

Dieses von Kant und Hegel gleichermaßen inspirierte didaktische Konzept versteht sich als eine Art Verbündungsdidaktik, indem es mit dem kritischen respektive dialektischen Potential der Lernsubjekte ein Bündnis eingeht, um dieses propädeutisch auszubilden und zu schulen. Das Bündnis hat, in deutlicher Abgrenzung von Rehfus, gerade die Stärkung der Subjektivität als Begriff im Zielfeld – und zwar die Stärkung gegen andere Mächte des Zeitgeistes wie die begriffslose Nacht der Esoterik, den seichten Hedonismus der Konsum- und Spaß-Kultur oder die planlose Zerstreuung im unüberschaubaren Angebot des Internets. Gegen diese Attacken auf die – in kantischer Sprache – Neigungsseite des Subjekts setzt eine dialektische Philo- sophiedidaktik in aufklärerischer Tradition auf die Kraft zu einem auf Selbst- und Fremddistanzierung beruhenden differenzierten Urteil27. Anders als in Martens’ Dialog-Didaktik wird der Vernunft von jedermann hier nicht a priori das Vermögen zu angemessenen philo- sophischen Problemstellungen und Urteilen unterstellt. Philosophi- sche Vernunft gilt vielmehr als bildungswürdig und -bedürftig. Daher ist ihr eigenständiges Urteil konsequent an begrifflich bestimmten und sich darauf beziehenden kritischen philosophischen Gedanken- bewegungen zu entwickeln, die gleichsam den Unterbau ihrer dia- lektischen Betätigung bilden und sie dadurch vor eristischer Ge- schwätzigkeit oder leerem Skeptizismus bewahren. Eine derart gebildete philosophische Urteilskraft vermag in einer Welt divergie- render Sinnangebote nicht nur dem Subjekt Orientierung zu geben, sie kann auch die Diversität der Sinnoptionen selbst als Wesens- merkmal des (objektiven) Geistes einer offenen demokratischen Gesellschaft stabilisieren helfen.

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