Roland W. Henke
Kants Konzept von moralischer Erziehung heute
(In: LSW (hg.): Erziehungskultur und soziales Lernen. Symposion des Landesinstituts. Bönen 2004, S. 109 – 128)
(Anlässlich des Soester Symposions „Erziehungskultur und soziales Lernen“ (17.02.2003) überarbeitete Fassung meines Aufsatzes „Kants Konzept von moralischer Erziehung im Brennpunkt gegenwärtiger Diskussionen“, erschienen in: Pädagogische Rundschau, H. 1, 51. Jg. 1997, S. 17 – 30)
Mit meinem Vortrag möchte ich die Aktualität von Kants Konzept moralischer Erziehung aufweisen. Dazu werde ich in einem ersten Teil den gegenwärtigen gesellschaftlichen Wertewandel und die dadurch geprägte Situation der Jugendlichen skizzieren. Sodann stelle ich idealtypisch drei pädagogische Antwortversuche auf die gekennzeichnete Lage dar. In einem dritten Teil referiere ich Grundzüge der Kantischen Pädagogik und lege dabei den Schwerpunkt auf Kants Vorstellungen von moralischer Erziehung. Schließlich beziehe ich die Kantischen Vorstellungen auf die Gegenwart, indem ich sie mit den heute verfochtenen Konzepten zur Moralerziehung in Kontakt bringe.
I. Der gesellschaftliche Wertewandel und die Situation der Jugendlichen
Es ist schon fast eine von den Sozialwissenschaften diagnostizierte Binsenweisheit geworden, dass in den modernen Industriegesellschaften die ehedem fest gefügten Wertmaßstäbe abhanden gekommen sind. Wir leben in einer „Risikogesellschaft“ (Beck), in der uns keine allgemein anerkannten Wahrheiten mehr darüber Auskunft geben können, wie wir unser Leben gestalten sollen. Vielmehr haben wir es mit einer Pluralität divergierender, ja konträrer und sich immer schneller wandelnder Lebensstile und ?entwürfe zu tun, in der sich ein ganzes Spektrum menschlicher Daseinsmöglichkeiten auffächert. Der Sozialwissenschaftler Ulrich Beck formuliert dies – bezogen auf die Sphäre des Privatlebens – vielleicht etwas überpointiert so: „Es ist nicht mehr klar, ob man heiratet, wann man heiratet, ob man zusammenlebt und nicht heiratet, heiratet und nicht zusammenlebt, ob man das Kind innerhalb oder außerhalb der Familie empfängt oder aufzieht, mit dem, mit dem man zusammenlebt, oder mit dem, den man liebt, der aber mit anderen zusammenlebt, vor oder nach der Karriere oder mittendrin.“
Ebenso wenig, so könnte man ergänzen, ist es klar, ob man einer der traditionalen Religionsgemeinschaften angehört, ob man sich in einer politischen Partei oder Gruppierung engagiert oder ob man sich in seiner Lebensführung ganz allgemein von festen Leitvorstellungen wie Zuverlässigkeit, Solidarität, Zivilcourage, Verantwortungsbewusstsein etc. bestimmten lässt.
Selbst die Überzeugungen, die den Kernbestand demokratischer Gesellschaften ausmachen und in klassisch-liberaler Tradition als Fundament für die Freigabe individueller Lebensmuster gelten, sind in Bewegung geraten. So zeigt z. B. die in den 90ern geführte Diskussion um den „Kulturrelativismus“ nagende Selbstzweifel an der Universalität der von der europäischen Aufklärungstradition hervorgebrachten Menschenrechte. Und nicht erst das Verhalten amerikanischer Soldaten gegenüber irakischen Gefangenen, sondern bereits der Mordfall Jakob Metzeler im Herbst 2002 hat mit dem kategorischen Folterverbot eines der Kernstücke der Menschenrechte ins Wanken gebracht.
Auf privater wie auf allgemein-politischer Ebene kann also ein Wertewandel oder eine Wertepluralisierung konstatiert werden. Dies meint sowohl den Verlust traditioneller Werte als auch die allwärts statthabende Neuorientierung. Dabei verstehe ich unter einem „Wert“ ein allgemeines Orientierungsmuster menschlichen Handelns, etwa in Abgrenzung zur Norm, die konkretere Verhaltensgebote und ?verbote umfasst, oder auch zur Institution, die eine gemeinschaftlich getragene Wertüberzeugung in Raum und Zeit verwirklicht. Ich spreche also bewusst nicht von einer Wertekrise oder einem Werteverlust, weil durch eine solche Begriffswahl schon bestimmte pädagogische Zielbestimmungen präjudiziert werden.
Ich möchte den Blick nun auf die Jugendlichen lenken, die in diesen schwierigen, von einer „neuen Unübersichtlichkeit“ (Habermas) geprägten Zeiten aufwachsen. In der jugendsoziologischen Literatur ist man sich weitgehend darüber einig, dass der gesellschaftliche Wertewandel von den Jugendlichen mit einem Individualisierungs- und Fragmentarisierungsschub ihrer Lebenswelten beantwortet wird. Individualisierung bezeichnet hier die steigende Tendenz zur Vereinzelung; das Leben wird allein gelebt und erlebt, soziale Bindungen sind zwar vorhanden, aber sie entfalten sich für den Einzelnen in einem stetig wechselnden Szenario. Damit ist auch schon das Schlagwort Fragmentarisierung ins Spiel gebracht: Gemeint ist damit die Zerteilung der Lebensbereiche, das Hinübergleiten von einer Sphäre in die andere: von der Bank, wo man tagsüber seine Lehre absolviert, zur Technoparty am Wochenende oder zum Computerspiel-Abend mit Freunden, ohne dass das Leben als Gesamtentwurf in den Blick gerät.
Gemeint ist auch das Nicht-Vorhandensein einer den „main-stream“ dokumentierenden vorherrschenden Jugendkultur, wie sie noch in den 70er und 80er Jahren verbreitet war. Vielmehr gehört zur heutigen Jugendkultur eine Vielzahl von nebeneinander her existierenden Orientierungsmustern (z. B. Hip-Hoper/Computer-Freak), deren Übernahme durch den Einzelnen von unterschiedlichen Faktoren wie Elternhaus, Schichtzugehörigkeit, Freundeskreis usw. bestimmt ist.
An den o. g. Individualisierungs- und Fragmentarisierungstendenzen unter heutigen Jugendlichen haben die sog. Neuen Medien, besonders das Fernsehen und das Internet, entscheidenden Anteil. Eine Fülle von Programmen und Internetkontakten bietet ständig per Knopfdruck oder per mouse-Klick veränderbare Realitätsfacetten. So entsteht leicht eine Lebenshaltung, in der sich der Einzelne als Zentrum beliebig ein- und ausschaltbarer virtueller Welten empfindet, so nicht sogar die Selbstempfindung eines stabilen identischen Ich überhaupt gestört bzw. pluralisiert wird.
II. Pädagogische Antwortversuche
Ich möchte nun in idealtypischer Weise drei verschiedenartige pädagogische Antwortversuche auf diese skizzierte Grundsituation kurz umreißen.
Da gibt es einmal die Pädagogen, welche die dargelegten Modernisierungsprozesse als Ganze bejahen. Sie sehen in der Pluralisierung und Individualisierung der Wertorientierungen im Anschluss an die philosophische Postmoderne eine Bereicherung und einen Zugewinn an neuen Möglichkeiten. Ideen wie Vernunft, Emanzipation oder Gerechtigkeit haben nach ihrer Auffassung die Vielfalt der Lebensprozesse und ?sphären lange genug eingeengt, nun geht es darum, sich auch noch von diesen letzten Götzen zu befreien.
Den philosophischen Unterbau für diese das Individuum und seine Lebenswelt ins Zentrum rückende Pädagogik bildet der sog. Radikale Konstruktivismus. Nicht nur Lernprozesse sollen individuiert und subjektiviert werden, auch die Übernahme von Wertmaßstäben und durch sie bestimmte Handlungsmuster wird zu einer individuellen Angelegenheit erklärt, da ja jeder Einzelne als ‚kognitives autopoetisches System’ der Konstrukteur seiner Welt, und somit auch seiner Wertwelt ist. Allein das Kriterium der Viabilität trägt nach konstruktivistischer Überzeugung dafür Sorge, dass sozial extrem schädliche Wertorientierungen sich nicht durchsetzen. Nach der Überzeugung der meisten Konstruktivisten, etwa Maturanas oder v. Glasersfeld, führt der Konstruktivismus eo ipso zu gegenseitiger Toleranz: Die Aufgabe eines allgemein gültigen Wahrheitsanspruches zeitige nämlich sozusagen automatisch Verständnis und Respekt für die vielen möglichen Wahrheiten und Werte, welche die Individuen legitimerweise je individuell konstruieren.
In dem bereits in den 80er Jahren entwickelten Konzept der Wertklärung von Raths, Harmin u. a. (value clarification) findet der Konstruktivismus seinen konsequenten moralpädagogischen Ausdruck: Die Schülerinnen und Schüler sollen nicht zu Werten erzogen werden, sondern die Aufgabe von Schule und Unterricht besteht hier allein in einer klärenden Bewusstmachung der eigenen, aber auch fremder Wertmuster. Letzthin läuft dies auf eine Befähigung der Jugendlichen hinaus, sich den zu ihnen passenden Lebensstil mit den entsprechenden Wertarrangements bewusst auszuwählen und aktiv zu konstruieren. Es geht um die Ausbildung der Kompetenz, sich auf einem gewissen Reflexionsniveau „durchwursteln“ zu können – wofür das Herumsurfen im Internet ohne ein bestimmtes Erkenntnisinteresse wohl die passende virtuelle Metapher darstellt.
Dagegen stehen die Erziehungstheoretiker, die im Wertewandel als ganzem eine Gefahr sehen und insonderheit die Fremdbestimmung der Jugendlichen durch die Medien- und Konsumwelt beklagen. Aus ihrer weitgehend übereinstimmenden Diagnose ergeben sich zwei Therapievorschläge.
Anknüpfend an die 1978 formulierten Thesen des Bonner Kongresses „Mut zur Erziehung“ plädiert z. B. Wolfgang Brezinka für ein moralisches Gegengewicht zu den beschriebenen Tendenzen der Gegenwart und fordert eine neue „Wertsicherheit“, mit der Lehrende und Erziehende den Jugendlichen entgegentreten sollen. Dabei geht es ihm letzthin um eine Wiederbelebung der traditionalen Werte wie Gemeinschaftsfähigkeit, Leistungsbereitschaft, Selbstdisziplin und Glauben: Nötig „ist die Rückbesinnung auf den prinzipiellen moralischen Kern der geltenden gesetzlichen Erziehungsziele und das öffentliche Einstehen für ihn gegen individualistisch-anarchistische Modeströmungen. […] Wertunsicherheit in der Erziehungsgeneration fördert ungewollt moralischen Nihilismus in der Generation der Zu-Erziehenden.“ Statt nur Werte zu klären, sollen hiernach die für ein Gemeinwesen für konstitutiv gehaltenen Wertmaßstäbe vermittelt werden, und zwar durch Vorbild und Überzeugung wo möglich – und durch erzieherischen Zwang wo nötig.
Die zweite Therapie-Variante begegnet im Konzept der Entbindung autonomer moralischer Urteilskraft, das auf den Forschungen von Piaget und Kohlberg beruht. Auf Kohlberg möchte ich mich im Folgenden konzentrieren.
Kohlberg geht von einer aus dem Individuum kommenden, durch Interaktion mit anderen gestützten Entwicklung des moralischen Urteils aus. Dieses entfaltet sich über die drei Stufen „präkonventionell – konventionell – postkonventionell“, welche in sich noch einmal je zweifach gegliedert sind, so dass im Ganzen sechs Urteilsstufen vorliegen. Sie korrelieren mit dem jeweils erreichten Intelligenzgrad. Nach Kohlberg handelt es sich um eine invariante Entwicklungsabfolge der moralischen Urteilsstufen, die jeder Einzelne nacheinander, allerdings nicht notwendigerweise bis zur höchsten Stufe, durchläuft. Diese höchste Stufe beinhaltet ein selbstbestimmtes Urteilen, das sich an universalen Prinzipien wie dem der Menschenwürde oder der Gerechtigkeit orientiert. Von ihm aus ergibt sich eine eigenständige ethische Kompetenz. Sie ermöglicht sowohl die Beurteilung einzelner konfliktträchtiger Wertansprüche als auch eine Bewertung gesellschaftlicher Ordnungen im Ganzen.
Im erzieherischen Handeln kommt es nun darauf an, das Urteil des zu Erziehenden zu einer jeweils über seinem Niveau liegenden Stufe zu stimulieren, damit idealiter die letzte Stufe von möglichst vielen erreicht wird. Dies geschieht durch die Konfrontation der Schülerinnen und Schüler mit hypothetischen Dilemmata. Mit ihnen konfrontiert, geben sie moralische Urteile zur Lösung des Dilemmas ab, deren Entwicklung zu einer höheren Stufe vom Lehrer behutsam anzustoßen ist. Auch sollen konkrete moralische Konflikte innerhalb einer Lerngruppe aufgegriffen und unter der Maßgabe diskutiert werden, die Urteilskompetenz der Lernenden gleichsam von innen her anzufachen. Die erreichte Stufe des Moralurteils ist dann die notwendige, wenn auch noch nicht die hinreichende Bedingung für moralisches Handeln.
Bezogen auf den skizzierten gesellschaftlichen Wertewandel bedeutet die Ausrichtung der moralischen Erziehung am Kohlberg-Schema den Versuch, den allgemeinen Wertewandel einerseits in die Hand der Subjekte zu legen, ihn also nicht gewaltsam umkehren zu wollen, wie etwa die neokonservativen Theoretiker. Andererseits wird er aber auch an eine moralische Substanz, an unhintergehbare ethische „essentials“ gebunden, die aus der Vernunft der sittlich kompetenten Subjekte selber kommen, welche die höchste moralische Stufe erreicht haben. Diese „essentials“ sind allerdings so allgemein, dass sie als Grundtypen moralischer Urteilsbildung nur die Basis für situationsgebundene Einzelurteile und Entscheidungen abgeben.
III. Kants moralpädagogische Einsichten
Ich lasse einstweilen die gegenwärtigen Diskussionszusammenhänge auf sich beruhen und wende mich den pädagogischen Einsichten Immanuel Kants zu, die sich komprimiert in seinen Vorlesungen „Über Pädagogik“ finden.
Kant geht davon aus, dass der Mensch zwar die Vernünftigkeit als Naturanlage besitzt, aber dass er sie durch eigene Bemühung nach und nach aus sich herausarbeiten muss. Allein so kann die Menschheit den ihr von der Vorsehung bestimmten Endzustand erreichen, in dem alle ihre Anlagen völlig entwickelt werden können. Aus diesen anthropologischen und geschichtsphilosophischen Voraussetzungen ergibt sich die Aufgabe der Erziehung: Durch sie allein kann der Mensch seine Naturanlage Vernunft aus sich heraus setzen, sich – wie einst Münchhausen – am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Deshalb benötigen auch nur Menschen eine Erziehung. Für Tiere, bei denen der Instinkt schon für die Realisierung ihrer Bestimmung gesorgt hat, ist sie überflüssig: „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht.“
Kant umspannt das gesamte Feld der Erziehung mit vier zentralen Begriffen: Disziplinierung – Kultivierung – Zivilisierung – Moralisierung.
Auf die Wartung, wir würden heute sagen: Pflege des Säuglings folgt mit der Disziplinierung die erste entscheidende Erziehungsmaßnahme. Disziplinierung bedeutet für Kant den negativen Teil der Erziehung, welcher zugleich ihr fundamentalster ist. Denn die Disziplin (oder Zucht) „ändert die Tierheit in die Menschheit um“, d. h. sie sorgt dafür, dass der Begriff der Menschheit am Einzelwesen auch wirklich wird und dieses nicht in seinen bloß sinnlichen Antrieben gefangen bleibt. Disziplin bedeutet für Kant keinen sklavischen Drill, sondern eine frühzeitige Unterwerfung der noch ungezügelten Sinnlichkeit des Kindes unter die „Vorschriften der Vernunft“. Vernunft heißt hier, dass das Kind i. S. der kantischen Rechtslehre Widerstand nur da findet, wo es die Freiheit anderer behindert. So kann es in der Disziplinierung schon seine eigene Freiheit spüren, da der Sinn der Verbote im Prinzip durchschaubar ist.
Auf die Disziplinierung folgen die Kultivierung und die Zivilisierung. Unter Kultivierung versteht Kant die Vermittlung von Geschicklichkeiten im Umgang mit Sachen. Lesen und Schreiben sind gleichermaßen Geschicklichkeiten wie Backen und Mikroskopieren. Durch sie erwirbt der Mensch die Fähigkeit, sich in einer technisch-kulturell bestimmten Welt sicher zu bewegen und zugleich den Prozess der technischen Zurichtung der Welt weiterzutreiben. Die Kultivierung bestimmt auch den individuellen Marktwert des Menschen in der Arbeitswelt.
Dagegen ist die Zivilisierung auf den Wert des Menschen als Bürger, als Mitglied der Öffentlichkeit, gerichtet. Durch sie lernt er nämlich dasjenige Verhaltensrepertoire, das man braucht, um sich sicher in der bürgerlichen Gesellschaft bewegen und ggf. auch andere Menschen für seine Zwecke einspannen zu können. Zivilisiert ist also ein Mensch, der die Manieren und den Verhaltenskodex seines Zeitalters beherrscht und auf diese Weise andere für sich einzunehmen versteht. Der heute häufig verwendete Begriff der „Sozialkompetenz“ bezeichnet wohl ziemlich genau das, was Kant unter „Zivilisiertheit“ versteht.
Über der kulturellen und zivilisatorischen Bildung steht als Letztes die moralische. Während die vorab genannten Formen geschickt oder klug machen, besteht das Ziel dieser Erziehung in der Sittlichkeit oder Moralität. Durch sie bekommt der Mensch „einen Wert in Ansehung des ganzen menschlichen Geschlechts“, denn er erwirbt die Gesinnung, „dass er nur lauter gute Zwecke erwähle. Gute Zwecke sind diejenigen, die notwendigerweise von jedermann gebilligt werden; und die auch zu gleicher Zeit jedermanns Zwecke sein können.“ Ein moralischer Mensch wird also seine kulturellen und sozialen Kompetenzen nicht missbrauchen, sondern sie an universalisierbare Zwecke binden. Um ein Beispiel Kants aus der ‚Grundlegung’ aufzugreifen: Der Unterschied zwischen einem Arzt und einem Giftmischer besteht nicht in dem Grad der Geschicklichkeit, den beide für ihre Kunst besitzen; er liegt vielmehr in den Zwecken, zu denen sie diese Geschicklichkeit gebrauchen, und nur beim Arzt handelt es sich um verallgemeinerungsfähige Zwecke. Daher ist die moralische Erziehung auch die Krönung aller Erziehung.
Kants pädagogische Einlassungen hängen hier mit seinem Lehrstück vom kategorischen Imperativ zusammen. Danach ist der Mensch durch das Streben nach individueller Glückseligkeit bestimmt. So basieren auch seine Maximen, d. h. seine subjektiven Handlungsgrundsätze, zuerst einmal auf seinen Neigungen und seinem natürlichen Egoismus. Erst wenn der Mensch seine Maximen auf ihre Tauglichkeit zu einer allgemeinen Gesetzgebung prüft, legt er den Grundstein für ein moralisches Handeln, das sich am Prinzip der Universalisierbarkeit ausrichtet. Der kategorische Imperativ „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ meint nichts anderes, als dass mit Hilfe eines Gedankenexperiments geprüft wird, ob die zunächst egoistischen Maximen sich zur vernünftigen, d. i. allgemeinen Gesetzgebung qualifizieren; tun sie es, so darf ich sie in die Tat umsetzen – tun sie es nicht, so soll ich nicht nach ihnen handeln. Um dieses aus der Vernunft gegen die Neigungen kommende Sollen zu bezeichnen, verwendet Kant den Begriff der Pflicht. Der kategorische Imperativ ist also ein in der Vernunft liegendes, durch keinerlei egoistische Antriebe bedingtes Maximenprüfkriterium, mit dem ich – unabhängig von den guten oder schlechten Folgen der Handlung für mich oder andere – deren moralischen Wert ermitteln kann.
In seiner zweiten Grundform, die Kant aus der ersten für ableitbar hält, führt der kategorische Imperativ auf die unaufhebbare Würde der Person, die in ihrer Fähigkeit zur Sittlichkeit begründet ist: „Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“ Damit ist eine klare Grenze für die Instrumentalisierung von Menschen gezogen.
Moralische Erziehung ist für Kant also die höchste Stufe der Erziehung, die den anderen Erziehungszielen – der Geschicklichkeit und sozialen Gewandtheit – erst ihren inneren Wert verleiht; oder andersherum: bei deren Fehlen jene Eigenschaften höchst gefährlich und bösartig gebraucht werden können. Moralität ist in Kants Erziehungskonzept aber nicht nur die höchste und wichtigste, sondern auch die am schwierigsten zu erreichende Stufe. Warum?
Das Sittengesetz, das beim Menschen als sinnlich-vernünftigem Wesen als (kategorischer) Imperativ erscheint, ist für Kant ein unbedingtes „Faktum der Vernunft“, für das der Einzelne Achtung empfindet. Zugleich wird jeder Mensch aber auch durch seine Neigungen bestimmt. Es steht nun in seiner eigenen Entscheidung – Kant nennt dies freie Willkür –, welcher der beiden Triebfedern, der Achtung fürs Sittengesetz oder dem Einfluss der Neigungen, er nachgibt. Dabei liegt die freie Orientierung an der sittlichen Vernunft bei Hintanstellung der sinnlichen Triebfedern zwar als Möglichkeit von Natur aus im Menschen; aber näher liegt ihm erst einmal das Gegensätzliche: nämlich die „verkehrte Denkungsart“, das Sittengesetz nur dann zu befolgen, wenn der Selbstliebe und den Neigungen kein Abbruch geschieht. Und diese Unterordnung der sittlichen Triebfedern unter die sinnlichen nennt Kant den eingeborenen Hang zum Bösen oder den bösen Willen. Diesen umzuwandeln und dadurch ein guter, d. i. moralischer Mensch zu werden, kann allein durch „eine einzige unwandelbare Erschließung“, eine „Revolution für die Denkungsart“ erfolgen. In ihr räumt der einzelne der moralischen Triebfeder den Vorrang vor der sinnlichen ein. Eine solche innere Revolution übersetzt sich dann allmählich auch in die äußeren Handlungen – Kant spricht hier von einer „Reform der Sinnesart“. Allein: Das Entscheidende für die Besserung der Handlungen ist die innere Umkehr von der Sinnlichkeit als oberstem Bestimmungsgrund der Willkür zu dem der Sittlichkeit.
Hierin liegt nun der Grund, weshalb die Erziehung zur Moralität so schwierig zu bewerkstelligen ist. Denn während die vorgelagerten Erziehungsformen primär das äußere Verhalten regulieren, zielt sie auf den eigenen Willen des Menschen, seine innerste Entschlusskraft zur Sittlichkeit. So unverzichtbar die moralische Erziehung im pädagogischen Gesamtkonzept Kants also ist, so unwägbar ist sie zugleich, denn sie hat es mit der menschlichen Autonomie zu tun. Daher ist es von besonderem Interesse, einen Blick auf die Methoden zu werfen, die Kant vorschlägt, um die innere Revolution im Denken der zu Erziehenden anzuregen.
„Die moralische Bildung“, so heißt es in Kants Pädagogik-Vorlesung, „[…] ist die späteste; in so ferne sie aber nur auf dem gemeinen Menschenverstande beruht, muss sie gleich von Anfang, auch gleich bei der physischen Erziehung beobachtet werden […].“
Kant verdeutlicht hier, dass moralische Erziehung zwar systematisch die letzte und höchste Erziehungsstufe darstellt, dass sie aber in der pädagogischen Praxis ein durchgängiges, von Beginn an wirksames Prinzip sein muss. Daher sollte sie auch methodisch auf die jeweils zu erreichende Alters- und Entwicklungsstufe abgestimmt sein. Nach meiner Lesart lassen sich bei Kant wiederum vier Stufen der Moralerziehung unterscheiden.
Da die erste Willensbestimmung zur Annahme von sittlichen Maximen am noch ungebildeten Menschen die Nachahmung ist, ist das erste, gleichsam technische Mittel der moralischen Erziehung das gute Beispiel, das der Lehrende selbst abgibt. Dadurch wird der zu Erziehende zwar ins moralische Verhalten eingeübt, aber es entsteht noch keine eigenständige Entscheidung für moralisches Handeln.
Diese weiter vorzubereiten dient der nächste methodische Schritt. Er setzt ein Interesse der Vernunft an der Beurteilung menschlicher Handlungen voraus, um den darin deutlich werdenden Charakter der betreffenden Person zu ergründen. Kindern sollen daher Beispiele von Handlungen, moralische Exempla, vorgelegt werden mit dem Ziel, die eigene Beurteilung zu aktivieren und zu schärfen.
Dabei möchte Kant die zur Beurteilung angebotenen Beispiele auf solche beschränken, in denen ein Mensch seine Pflicht um der Pflicht willen tut, also bloß aus Pflicht handelt. Über das normale Maß der Pflichterfüllung hinausschießende, sog. verdienstliche Handlungen lehnt Kant hingegen als moralische Exempla ab. Sie riefen im Schüler lediglich ein enthusiastisches, kurzlebiges Gefühl für den so Handelnden hervor, welches keine nachhaltige moralische Umorientierung bewirken könne. Ggf. könne sogar der Eindruck entstehen, moralisch außergewöhnliche Taten entbänden von der täglichen, viel mühsameren Pflichterfüllung.
Nicht wenige pflichtmäßige Handlungen wurzeln in moralisch zweifelhaften Antrieben. Moralische und amoralische Triebfedern bilden oftmals ein schwer durchschaubares Motivationsgemenge. Kant meint, dass die spekulierende Unterscheidung von lauteren und unlauteren Motiven die moralische Urteilskraft der Schüler übe und so die sittliche Denkungsart fördern könne. Schon Zehnjährige, so seine Auffassung, sind zu derartigen moralischen Vernunfturteilen fähig. Genau hier liegt nun die Pointe. Denn nach Kant macht sich das Sittengesetz als „Faktum der Vernunft“ bereits im Kind bemerkbar, da es intuitiv die rein aus Pflicht gewählte Handlung als moralisch erkennt. Und diese Erkenntnis kann die „Revolution für die Denkungsart“ befördern: indem sie nämlich dem Kind das Bewusstsein vermittelt, sich selbst auch von allen egoistischen Antrieben losmachen zu können – und im Bewusstsein dieser Freiheit bekommt es Achtung für sich selbst. So schaffen die passenden moralischen Exempla im Schüler die Motivation, selbst ein moralischer und damit freier, sich selbst achtender Mensch zu werden.
Für die ausgereiftere Vernunft schlägt Kant eine dritte methodische Anwendung vor. Es ist das systematisch-begriffliche Lehren ethischer Prinzipien in Form eines moralischen Katechismus. Hierbei werden die Grundzüge der Kantischen Moralphilosophie selbst dem Schüler so beigebracht, dass der Lehrende dessen Gedankengang durch Fragen leitet und damit die Anlage zu gewissen Begriffen im Lernenden maieutisch entwickelt. Auch hier setzt Kant wieder voraus, dass die moralische Orientierung am Sittengesetz in der Vernunft eines jeden Menschen liegt und jeder ein „natürliches“ Bewusstsein dafür besitzt, sich allein durch sie der Glückseligkeit würdig machen zu können.
Die Aufgabe des moralischen Katechismus besteht lediglich darin, dieses Bewusstsein begrifflich aufzuschließen und es über sich selbst und seinen vernünftigen Sinn aufzuklären.
Kant ist der Überzeugung, die Präsenz des Sittengesetzes in der menschlichen Vernunft verweise letztlich auf dessen göttliche Herkunft. Wir können zwar Gottes Existenz nicht beweisen, aber wir können doch intensiv nach der Herkunft eines Anspruchs in uns fragen, der uns weit über unsere sinnlichen Bedürfnisse und Neigungen stellt. Indem wir hier nach Antworten suchen, geben wir unserer moralischen Orientierung ein letztes transzendentes Fundament, in dem sie ihren abschließenden Sinn erfährt.
Um klarzustellen: Kant macht nicht das moralische Handeln von einem göttlichen Willen abhängig, etwa indem jemand sich um es bemüht, damit er Gott wohlgefällig wird. Er gründet nicht die Moralität auf den Glauben, sondern den Glauben auf die Moralität. Der moralische Katechismus muss dem religiösen vorhergehen, sonst gerät die moralische Autonomie in Gefahr. Dennoch kann der Verweis auf die Unbegreiflichkeit des Sittlichen und das Aufzeigen seiner unbedingten Erhabenheit über das Sinnliche den Entschluss zur Moralität stützen, weil hierin der Gottesgedanke aufscheint.
Worin liegt also nun der Beitrag Kants zur Werterziehung heute?
IV. Kants Konzept der Moralerziehung im Kontext gegenwärtiger pädagogischer Antwortsuche
Ganz wie die konstruktivistischen Pädagogen auf den pluralen Orientierungen insistieren und sie lediglich im Wertklärungsverfahren bewusst machen wollen, wobei sie die neuen Technologien und Medien bejahen, schafft auch Kants Erziehungstheorie den Raum für Wert-Pluralität und technische Weltbeherrschung. Denn Erziehung hat es nach Kant erst einmal mit Kultivierung und Zivilisierung zu tun, einer pädagogischen Einflussnahme, die auf den Verstand und seine Ausbildung gerichtet ist. Sie lässt die moralischen Gesinnungen frei und macht den Menschen zur Naturbeherrschung geschickt und zum Verfolgen seiner Zwecke in der Gesellschaft klug.
Was die Zwecke angeht, so sucht Kant ihrer beliebigen Festlegung allerdings im Konzept der Moralerziehung einen Riegel vorzuschieben; aber auch hier gibt er keine inhaltlich bestimmten Werte vor, sondern besteht lediglich auf allgemeinsten Prinzipien ethischer Reflexion, die aus dem autonomen Subjekt selber kommen. In diesem Insistieren unterscheidet er sich allerdings signifikant von der postmodernen Pädagogik.
Damit ist zugleich der Bogen zu der zweiten pädagogischen Antwort gespannt, die ich anfangs vorstellte. Denn neokonservative Theoretiker wie Brezinka intendieren eine Wiederbelegung traditionaler Werte wie Leistungsbereitschaft, Gemeinschaftssinn und Glauben, die sie zwar als Tugenden vermitteln wollen, aber nicht an die autonome sittliche Kompetenz der Subjekte zurückbinden. In Kantischer Sicht gehen sie damit von einem – schon zu seinen Zeiten – nicht mehr gegebenen und vor allem nicht legitimierbaren materialen Wertekonsens aus, der zudem zu seiner Realisierung wesentlich auf äußeren Zwang angewiesen ist. Wohl will auch Kant nicht auf Standards in der moralischen Erziehung verzichten, und auch er sieht zu ihrer Beförderung den überlegten Einsatz gezielter Strafen vor, wie die Beschämung des sich moralisch verfehlenden „Jünglings“. Aber er verweigert sich der inhaltlichen Festschreibung dieser Standards und besteht auf ihrer Herkunft aus dem Subjekt selbst.
Daraus ergibt sich die Nähe des Kantischen Konzepts zu dem Modell von Kohlberg. Denn wie Kant ist dieser der Auffassung, dass moralische Grundorientierungen auf einem kognitiven Kern beruhen und dass sie – über verschiedene Stufen moralischer Urteilsfähigkeit – aus dem Menschen selber hervorkommen. Damit ist die fundamentale Gemeinsamkeit beider Ansätze angesprochen: Sie liegt in ihrer aufklärerischen Gewissheit, dass der Mensch aus seiner eigenen Vernunft universelle moralische Urteile und in der Folge ethische Leitlinien für sein Handeln zu produzieren imstande ist. Maßstab für die Beurteilung von sich ständig wandelnden Werten ist damit eine auf allgemeinsten Prinzipien beruhende Moralität, die quer zum Gedanken eines konstruktivistischen Werterelativismus steht. Auch sind Kant und Kohlberg der Auffassung, dass die Entwicklung einer solchen Urteilskraft erzieherisch zu beeinflussen ist.
Hierin liegt aber zugleich ein entscheidender Differenzpunkt. Denn Kant geht davon aus, dass die moralische Urteilsfähigkeit im Prinzip bereits im Kinde in ihrer vollständigen Gestalt gegeben ist und nicht erst sukzessive zu ihrer höchsten Form gelangt. Schon Zehnjährige besitzen nach Kant ein intuitives Vernunftwissen über das, was ohne Rücksicht auf die Folgen der Handlung und ihren Eigennutz moralisch geboten oder verboten ist. Auf dieses ursprüngliche begriffliche Wissen kann in der moralischen Erziehung aufgebaut werden, so dass es sich schließlich frei zur Bildung fester sittlicher Grundsätze ausformt.
Zwar nimmt Kant wie Kohlberg an, dass der Egoismus jeden Menschen von Beginn an bestimmt; aber dieser Bestimmung steht doch schon im Kinde gleichrangig und gleichursprünglich das Vermögen zum moralischen Vernunfturteil gegenüber. Während Kohlberg drei zentrale moralische Urteilsstufen unterscheidet, kommt Kant mit zwei aus. Der egoistisch-heteronomen, die durch das Streben nach der eigenen Glückseligkeit bestimmt ist, steht die der autonomen Sittlichkeit gegenüber, deren Leitfaden die praktische Vernunft vorstellt. Der Einzelne muss sich frei entscheiden, welcher der beiden Ansprüche er folgen möchte. Moralische Erziehung hat also bei Kant nicht – wie bei Kohlberg – die Aufgabe, die moralische Urteilsfähigkeit zu stimulieren und nach oben hin zu transformieren, sondern sie dient dazu, das ohnehin schon ausgebildete moralische Urteil zu festigen und es – in freier Entscheidung – zur Leitinstanz für die Prüfung und vor allem die Zulassung egoistischer Maximen zu machen. Daher wirken Kants Erziehungsmittel auch ungleich geschlossener als Kohlbergs Dilemmageschichten. Statt das freie Spiel der Urteile zu entfalten und zur Höherentwicklung zu stimulieren, sollen die moralischen Exempla den „Jüngling“ seine Freiheit merken lassen, um ihn zur eigenen Entscheidung für die Sittlichkeit zu motivieren.
Dabei bezieht der Aufklärer Kant bei seinen Vorschlägen zur Moralerziehung auch affektive Momente mit ein: etwa, wenn er die Selbstachtung als Wirkung moralischen Handelns für die Motivation zu ihm nutzen oder das Gefühl der Erhabenheit der moralischen Bestimmung im educandus hervorrufen möchte. Vor allem aber ist Kants Bekenntnis zur Autonomie so radikal, dass er mit dem Begriff der „Revolution für die Denkungsart“ dem Subjekt einen durch Erziehung nicht einholbaren (intelligiblen) Freiraum zugesteht, den man bei Kohlberg vergeblich sucht.
Gelangt der Einzelne innerhalb des Kohlbergschen Modells nicht zur letzten Stufe moralischer Autonomie, so wirkt das, als bliebe er auf halber Strecke liegen und habe sein Soll nicht erfüllt. Einer derartigen latent mechanistischen Auffassung entgeht Kant, indem er die Entscheidung für das Moralische oder Amoralische letztlich ganz in die Freiheit des Subjekts verlegt. Nicht um kleine Transformationen von Urteilsstufe zu Urteilsstufe geht es, sondern um die eine Umwendung, die den „bösen“, d. h. an egoistischen Urteilen und Maximen ausgerichteten Willen zum Guten verkehrt – oder auch nicht! Über das dazu notwendige Rüstzeug in Form ausgebildeter moralischer Urteilskompetenz verfügt der Mensch schon als Kind.
Damit macht Kant zwar die Gründung einer hinreichenden Werteorientierung auf das autonome Subjekt zu einem gewissen Risiko, aber er entlastet auch die moralpädagogischen Bemühungen von einem überhöhten Erfolgsdruck: Ob sie gelingen, hängt in letzter Instanz von den Lernsubjekten selber ab, die ihren unverfügbaren Freiheitsraum eben auch zum Bösen nutzen können. Allein in diesem freiheitstheoretischen Sinn ist Kant Konstruktivist.
Kant geht noch in einem letzten Punkt über Kohlberg hinaus. Während dieser die autonome sittliche Kompetenz als höchste Urteilsstufe allein im Subjekt fundiert, verweist Kant auf die Notwendigkeit, Moralität noch einmal in einen transzendenten Bezugsrahmen zu stellen. Erst wenn der Einzelne zu einer vernünftigen, dabei allerdings ohne objektiven Wahrheitsanspruch auskommenden Gesamtdeutung seiner Existenz gelangt ist, erschließt sich ihm der volle Sinn moralischer Orientierung. Für einen wertorientierenden Ethikunterricht heute bedeutet dies, dass er auch erkenntnistheoretische und metaphysische Probleme nicht ausklammern darf.
Seit Kant hat sich die Welt entscheidend gewandelt: Das fast perfekte Ineinandergreifen von Geschicklichkeit an den Objekten und strategischer Klugheit im Umgang mit Subjekten hat eine neue technologisch vermittelte Lebensqualität hervorgebracht, wie sie sich dieser wohl nicht hätte träumen lassen. Mag uns heute auch der aufklärerische Glaube an eine stetige sittliche Vervollkommnung der Menschheit, den Kant noch besaß, weitgehend verloren gegangen sein, so müssen wir uns doch fragen: Kann uns dies von einer Erziehung suspendieren, welche die nachrückende Generation zu befähigen sucht, die Chancen und Risiken der neuen Lebensformen mit ethischer Vernunft zu prüfen und dabei von universalen Prinzipien wie denen der Gerechtigkeit und Menschenwürde auszugehen? Wird nicht gerade diese Erziehungsintention angesichts der neuen technologischen Entwicklungen unabdingbar? Und kann sie anders tragfähig umgesetzt werden, als auf die in jedem autonomen Subjekt wohnende Fähigkeit zur moralischen Orientierung zu bauen?
Vielleicht trifft es zu, dass Kants Begriff von Moralität zu monologisch ist und einer diskursethischen Ergänzung bedarf, wie etwa Apel und Habermas meinen, wobei dieser den sechs Stufen Kohlbergs deswegen eine siebte hinzufügt. Vielleicht trifft es auch zu, dass Kants moralphilosophisches Konzept die Verantwortung unseres Handelns für zukünftige Generationen dieser Erde zu wenig im Blick hat, wie z. B. Hans Jonas glaubt. Vielleicht ist Kants gesamte Ethik sogar zu naiv-rationalistisch, weil sie den Einfluss von Gefühlen und zuletzt die Macht des Negativen, des Bösen unterschätzt und von einem durch Erziehung beeinflussbaren natürlichen Hang zur Moralität ausgeht. All dies mag vielleicht zutreffen und zu einer kritischen Revision des Kantischen Konzepts heute führen. Aber die Auseinandersetzung mit ihm lohnt sich immer noch.
Begriffschema zu Kants Ethik
Sinnen- bzw. Erscheinungswelt Erscheinung reine Naturwesen (z. B. Tiere) Neigungen/Naturkausalität Naturgesetze (= Heteronomie) | Verstandes- bzw. intelligible Welt Ding an sich bzw. Ich an sich reine Vernunftwesen (z. B. Gott) Kausalität aus Freiheit Vernunftgesetz(e) (= Autonomie) |
Mensch = Wesen der Pflicht („Du sollst!“) | verkehrte Denkungsart „richtige“ Denkungsart Revolution für die Denkungsart (Hang zum Bösen ? Anlage zum Guten) intelligibler Charakter |
Roland W. Henke: Kants Konzept von moralischer Erziehung im Lichte gegenwärtiger Diskussionen (Philos. Kolloquium 27.05.04)
I. Der gesellschaftliche Wertewandel und die Situation der Jugendlichen
• Begriff des Wertewandels: Verlust traditionaler Werte / notwendige Neuorientierung
• Lebenswelten der Jugendlichen: Individualisierung / Fragmentarisierung
Notwendigkeit der Orientierung
II. Gegenwärtige pädagogische Antworten
• Konstruktivismus und Wertklärung: Entwicklung der Kompetenz zum reflektierten „Sich-Durchwursteln“ (z. B. Raths, Simon)
• Vermittlung von traditionalen Werten und Tugenden (z. B. Brezinka)
• Entbindung autonomer moralischer Urteilskraft (z. B. Kohlberg)
Rekurs auf Kant
III. Kants moralpädagogische Einsichten
• Erziehungsziele:
– Disziplinierung
– Kultivierung
– Zivilisierung
– Moralität (autonome Entscheidung zum guten oder bösen Willen)
(„Revolution für die Denkungsart“ / „Reform der Sinnesart“)
• Mittel der moralischen Erziehung:
1) das gute Beispiel des Lehrenden
2) Erörterung moralischer Exempla
3) Erlernen ethischer Begriffe und Prinzipien (moralischer Katechismus)
4) Erweckung des Gefühls der Erhabenheit
Kants Aktualität
IV. Kants Konzept im Kontext gegenwärtiger pädagogischer Antworten
• Kants Verhältnis zur konstruktivistischen Pädagogik
• Kants Verhältnis zur neokonservativen Pädagogik
• Kants Verhältnis zu Kohlberg als Vertreter einer modernen Pädagogik:
– die ursprüngliche Anlage zur Moralität im Kinde
– die Entscheidung zur Moralität als unverfügbare Größe
– die Einbettung der Moralität in einen transzendenten Orientierungsrahmen